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Was heisst eigentlich normal im Thurgau?

Mit seiner Ausstellung «Thurgauer Köpfe – Tot oder lebendig» vor zwei Jahren ging das Historische Museum Thurgau auf die Suche nach dem Superthurgauer (m/w/d). Dabei stellte sich automatisch auch die Frage nach dem, was im Thurgau als normal gilt.

Die Sonderausstellung mit dem übergeordneten Titel «Thurgauer Köpfe» war ein gemeinsames Projekt der sechs kantonalen Museen im Thurgau. Für das Geschichtsmuseum in Frauenfeld stellte sich zuerst die Frage, wer aus historiografischer Perspektive überhaupt als Thurgauer Kopf gilt. Die Vielfalt an möglichen Antworten auf diese Frage öffnete dem Museumsteam schliesslich den Weg zu einer Ausstellung, in der Normalitätsvorstellungen eine wesentliche Rolle spielten – sind es doch die allgemein anerkannten Werte und Normen, welche die Stellung einer Person in der Gesellschaft prädestinieren.

Umfrage als Datenbasis

Um eine empirische Basis für den Super- oder eben Normthurgauer (m/w/d) zu schaffen, wurde im Vorfeld der Sonderausstellung eine Umfrage im Kanton lanciert, in der es einerseits um typisch thurgauische Eigenschaften, andererseits aber auch um die Frage nach dem bekanntesten Thurgauer Kopf in Geschichte und Gegenwart ging – gleichsam eine Fahndung «Tot oder lebendig», so eben auch der Untertitel der Ausstellung. Unter den Top Five der Köpfe, die von den 552 Umfrageteilnehmenden auserkoren wurden, rangierten in dieser Reihenfolge Mona Vetsch, Reto Scherer, Peter Spuhler und – jetzt kommt die Überraschung – Kaiser Napoloen III. (1808–1873).

Zu den fünf bekanntesten Köpfen im Thurgau gehört aktuell auch … Napoleon III.

Auf den ersten Blick erstaunt es, dass ein machtbewusster Kaiser zum Top-Five-Thurgauer-Kopf gekürt wurde, in einem Kanton, der zumindest nach dem Stereotyp als eher bescheiden und ländlich gilt. Das herrschaftliche Kaiserporträt des Jahres 1861 aus der Sammlung des Napoleonmuseums Thurgau, welches im Eingangsbereich der Ausstellung im Alten Zeughaus Frauenfeld die Besucherschaft empfing, will nicht so recht zu den üblichen Vorstellungen des typischen Thurgauers passen. Doch das ist nur ein Teilstück der historischen Realität, es hängt schliesslich ebenso von der Epoche ab, wie die Norm des typisch Thurgauischen zu definieren ist.

Und schon haben wir den Salat. In die Thurgauer Norm hinein spielen also nicht nur Wahrnehmungen ganz unterschiedlicher Leute und Gruppen wie in der Umfrage, sondern eben genauso die jeweiligen Zeitumstände. Kurz: Je nach Jahrhundert gelten andere Werte und Vorstellungen – hinzu kommen unterschiedliche Faktoren, wie die Norm konstruiert wird und wer als Folge überhaupt die Chance hat, als Thurgauer Kopf wahrgenommen zu werden.

Medien machen Leute

So waren etwa die Möglichkeiten für die mediale Inszenierung im jungen Thurgau des 19. Jahrhunderts ganz andere als sie es heute im Zeitalter der Social Media sind. Nur kaufkräftige Herrschaften des politischen und gesellschaftlichen Establishment konnten sich die Zeit und das Honorar für ein Porträt in Form eines Gemäldes leisten. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass mächtige Männer wie eben Napoleon III. oder der ehrgeizige Landammann Joseph Anderwert (1767–1841) für eine kürzere oder längere Zeitspanne als Thurgauer Kopf galten. Ihre majestätischen Staatsporträts liessen sie in repräsentativen Stuben und Amtszimmern anbringen, die Öffentlichkeit konnte sich dadurch eben ein «Bild» von den Herrschaften machen – so blieben die Köpfe in Erinnerung.

 

Tot und wieder lebendig

Eine gesteigerte Form dieser öffentlichkeitsprägenden Erinnerungspraxis, welche den Protagonisten eine Art Leben nach dem Tod ermöglichen sollte, ist die Anfertigung sogenannter Totenmasken. Der Thurgauer Schriftsteller Alfred Huggenberger und sein Abguss der Totenmaske als Ausstellungsobjekt waren für das Historische Museum Thurgau ein publikumswirksames Beispiel, um zu zeigen, welchen Einfluss ein Wandel der Normen auf die Wahrnehmung von Köpfen im weiteren und auf die Vorstellungen von Thurgauer Charakteristika im engeren Sinne hat. Als sich die Schweizer Öffentlichkeit zur Zeit der so genannten Geistigen Landesverteidigung gegenüber den Kollaborationen zwischen Nazi-Deutschland und einzelnen helvetischen Institutionen und Köpfen noch wenig sensibel zeigte, war die Bewunderung für Huggenberger weit verbreitet. Texte des Bauerndichters wurden in Schulbüchern abgedruckt und galten als Heimatliteratur.

Ab den 1990er-Jahren nahm die öffentliche Wahrnehmung von unkritischem Handeln in der Kriegszeit eine Wende. Das Bekanntwerden von Huggenbergers Lesereisen im Hitler-Deutschland und seine Entgegennahme von Literaturpreisen aus der Hand der Nazis führten dazu, dass sein Gedenken Kratzer erhielt – die SBB etwa zog 2006 die Taufe eines ICN auf Alfred Huggenberger zurück. So geriet der Thurgauer Literat verstärkt in Verruf und mittlerweile auch fast in Vergessenheit. Zur Schweizer und Thurgauer Norm sollte der Opportunismus nicht mehr zählen, den Huggenberger gegenüber den Kriegsverbrechern im Norden an den Tag gelegt hatte – so die Meinung der Öffentlichkeit heute.

Ursprünglich bewundert, heute umstritten: der Thurgauer Schriftsteller Alfred Huggenberger

Wer die Norm prägt

Im so genannten Labor der Ausstellung «Thurgauer Köpfe – Tot oder lebendig», das heisst, dort, wo Besucherinnen und Besucher auf der Basis eines interaktiv-partizipativen Rundgangs aufgrund ihres Antwortverhaltens selbst analysieren konnten, ob sie das Potential zum Thurgauer Kopf haben oder nicht, zeigte sich, wie komplex die Frage nach dem Normalen ist.

Norm ist eben nichts Statisches. Wer heute gegen die Norm verstösst, wird sie morgen vielleicht prägen. Bestes Beispiel ist der berühmte Pazifist Max Daetwyler (1886–1976) aus Arbon. Im Ersten Weltkrieg wurde er wegen Verweigerung des Fahneneids verhaftet und in die Psychiatrische Klinik Münsterligen eingewiesen; 50 Jahre später erhielt sein Wirken als Friedensaktivist internationale Anerkennung. Mit seinem Denken und Handeln hat er die postmoderne Norm mitgeprägt, indem er bereits in der Weltkriegszeit unsere spätere Normvorstellung antizipierte, die mehr auf globalen Frieden und Sicherheit ausgerichtet ist als auf penetranten Nationalismus.

Max Daetwyler als «Friedensapostel» 1969 in Lausanne Bild: Comet Photo AG (Zürich) – ETH

Ein bisschen abnormal ist heute normal

Es lässt sich durchaus behaupten, dass ein gewisses Mass an Abnormalität generell nötig ist, um Normen weiterzuentwickeln. Der Militärdienstverweigerer und Pazifist Daetwyler war in einer Dimension jenseits der Norm, welche in die Zukunft wies. Deshalb wird er positiv erinnert. Huggenberger sowie etwa auch die Schriftstellerin Alja Rachmanowa (1898–1991) hingegen strapazierten die Normvorstellungen in die entgegengesetzte Richtung, ihr Gedenken erhielt Risse.

Jedenfalls muss anders als im 19. Jahrhundert ein Thurgauer Kopf heute mehr sein als ein backenbärtiger Staatsmann aus einer mächtigen eingesessenen Familie. Eine gewisse Abnormalität gehört in unserer aufgeregten Informationsgesellschaft wohl mehr denn je genauso zu Norm, wie ein gewisses Mass an Konformität. Ob die Dimension oder das Ausmass des Abweichens von der Norm individuell einmal als progressiv oder rückständig wahrgenommen wird, dies kann auch in Zukunft nur die Geschichte zeigen.

zum Autor: Dr. Dominik Streiff, ist Stellvertretender Museumsdirektor und Ausstellungskurator des Historischen Museums Thurgau. www.historisches-museum.tg.ch

 

 

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