Während einer kurzen Blütezeit im Hochmittelalter schafften geschickte Baumeister das Kunststück, aus gewaltigen Gletscherfindlingen mächtige Türme zu formen. Von den schweizweit zehn sogenannten Megalith-Türmen zählt der Bergfried von Frauenfeld zu den herausragenden Beispielen einer Ausnahmephase der spätromanischen Stilepoche.
Wir kennen sie vielleicht aus der Kindheit, die Findlinge der Schweiz. Im Feld, im Wald, in Wiesen oder in der Stadt liegen die oftmals tonnenschweren Brocken halb in der Erde. Betrachtet werden sie mit einer gewissen Ehrfurcht, nicht nur aufgrund der schieren Grösse, sondern auch wegen ihrer Herkunft. Diese liegt in einer steinzeitlichen Vergangenheit.
Eiswalze bringt Baumaterial
Während der sogenannten Würm-Kaltzeit: Im Huckepack verfrachtete vor 25 000 Jahren eine mehrere Hundert Meter dicke Eiswalze massige Gesteinsbrocken von den Alpen ins Flachland. Als sich auch der Rheingletscher wieder zurückzog, hinterliess er in der Ostschweiz jene wundersamen unförmigen Brocken, die seit dem 19. Jahrhundert mit demselben Namen wie früher die ausgesetzten Kinder genannt werden – «Findlinge». Die buckeligen Besucher aus Ilanz, Buchs, vom Tödi oder vom Flüelaschwarzhorn tragen heute Fachnamen wie Verrucano oder Amphibolit und sie sind auch in Mauerwerken zu finden.
Den Zeitgenossen im Frühmittelalter waren die glazialen Kolosse aber schlichtweg zu schwer, zu hart und scheckig, um damit eine gradlinige Mauer oder einen stabilen Turm zu errichten, der auch den gängigen Vorstellungen von Ebenmass entsprach. Auch waren Eisenmeissel für die Bauherren viel zu kostspielig, als dass sie diese an das klobige Eiszeitgestein verlieren wollten. So verharrte das weithergebrachte Naturerbe Generation um Generation im Boden, bildete markante Sporne in der Landschaft und behinderte unter anderem den Ackerbau sowie auch den Ausbau von Handelswegen und Trassen. Welche Muse schliesslich die Architekten der burgenreichen Epoche des Stauferkönigs Friedrichs des Grossen geküsst und damit unter anderem auch die Findlinge aus ihrer Versenkung geholt hat, verraten uns die wenigen Schriftquellen aus den Jahren um 1200 nicht.
Frauenfeld als Brennpunkt
Jedenfalls entstanden in unserer Gegend während der kurzen Phase der Zähringer- und Kyburgerherrschaft die markanten Megalith-Türme, deren Mauerwerk mindestens zu drei Vierteln aus ausgesprochen grossen Findlingsbrocken besteht. Der Bergfried zu Frauenfeld gehört zu den vier beeindruckendsten dieser Megalith-Monumente, weil der Turm fast durchgehend mit Grossfindlingen errichtet wurde. Damit steht das Wahrzeichen der Thurgauer Kantonshauptstadt baugeschichtlich im Zentrum dieser einzigartigen Epoche, in welcher Eiszeit und Mittelalter ihre Hochzeit feierten.
Weshalb als Standort genau der Sandsteinfelsen über der Murg gewählt wurde, darüber können wir nur mutmassen: Natürlich war der Felsen am Flussübergang ein idealer Ort, den regionalen Handel zu kontrollieren, Zölle zu erheben und Grundherrschaft zu realisieren. Die alte Römerstrasse von Winterthur an den Bodensee war nicht weit, und im Norden florierte die Reichenauer Siedlung Erchingen. Für die Geschichtsschreibung liegt hier auch eine Knacknuss verborgen.
Mythos Stadtgründung
Grundherrin der Ländereien in und um Frauenfeld war die einflussreiche Klosterinsel Reichenau, welche dieses Jahr ihr 1300-jähriges Jubiläum zelebriert. Die althergebrachte Erzählung, dass der Burgbau und die Stadtgründung Hand in Hand gingen, lässt sich zwar nicht belegen, kann aber als naheliegend gelten. Die Geschichte einer weiteren Kyburger Siedlungsgründung nach Winterthur und Diessenhofen, die vom Schloss Frauenfeld ausgeht, wird durch die bekannte Legende vom «Fräuli mit em Leuli» beflügelt. Möglicherweise deutet die Stadtlegende, aber auch einen Konflikt zwischen den Kyburger Adligen und der Klosterinsel Reichenau an. Immerhin ergreift der Abt der mächtigen Lehnsherrin Reichenau Partei für die Tochter des Kyburger Grafen, die einen Adligen niederen Standes gegen den Willen ihrer Familie ehelichen will. In der standesbewussten Zeit eine doch sehr ungewöhnliche Doppelverletzung der Norm.
Weil die Kyburger Tochter zumindest in der Legende eine Antwort zur Baugeschichte gibt, hat das Historische Museum Thurgau sein Themenjahr 2024 mit «Frau & Bau. Die Geburt einer Hauptstadt » betitelt. Damit sind die aufsehenerregenden Jahrzehnte zwischen Burgbau und Stadtgründung im 13. Jahrhundert thematisiert. Zusammen mit dem Jubiläum der Reichenau werden ebenso die starke Bande zwischen dem Thurgau und der Klosterinsel vergegenwärtigt und aufgezeigt, dass Menschen, Ideen und Kulturgüter damals noch keine nationalen Grenzen kannten.
Grenzenlos bedeutend
In diesem Sinne reist nun auch eines der wertvollsten Objekte des Historischen Museums Thurgau an die Grosse Landesausstellung: Die berühmte Frauenfelder Stadtscheibe aus dem Jahr 1543, auf welcher der mächtige Abt Konrad von Zimmern gezeigt wird, der in den Jahren des Burgbaus zwischen die Fronten von Kaiser und Papst geriet. Das zeitgleich entstehende Schloss Frauenfeld ist also nicht nur ein einzigartiger baugeschichtlicher Zeuge, sondern lag tatsächlich im Brennpunkt der Weltgeschichte.
zum Autor: Dr. Dominik Streiff ist Kurator Ausstellungen und stellvertretender Direktor des Historischen Museums Thurgau.
Angebote im Historischen Museum Thurgau 2024
Schloss Frauenfeld/Schaudepot St. Katharinental
Audiotouren, Familien-Trails, Rittergeburtstage, Teamabenteuer, Escape Room, Entdeckungstouren für Firmen, Vereine und Private Öffnungszeiten: Di.–So., 13–17 Uhr, Eintritt frei Führungen und Öffnungszeiten im Schaudepot auf Anfrage, Infos und Buchungen unter: www.historisches-museum.tg.ch