Blog

Gottfried Kellers feuriger Thurgauer Freund

von Monica Seidler-Hux

2020 war das Jahr der Thurgauer Köpfe. Eine neue Biografie über den bisher wenig bekannten, ja vielmehr verkannten Frauenfelder Baumeister Johann Ulrich Müller (1819-1888) fügt der Galerie ein schillerndes Porträt hinzu.

Alles begann mit einem Brief und einer krakeligen Skizze des Frauenfelder Schlosses. Als es im Hinblick auf Gottfried Kellers 200. Geburtstag darum ging, eine Präsentation seines Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich vorzubereiten, stiess ich in einem Briefband auf “J. Müller” aus Frauenfeld. Meinem Geburts- und Heimatort.

Johann Müllers erster Brief an Gottfried Keller vom 1.3.1837. Das Schloss steht für den Absenderort Frauenfeld.

Mein Interesse wuchs, als ich erfuhr, dass der Thurgauer Eingang in den Roman Der grüne Heinrich (1854/55) und damit in die Literaturgeschichte gefunden hatte. Gottfried Keller (1819-1890) lässt seine Hauptfigur Heinrich Lee erzählen: “Ferner hatte ich um die Zeit einen feurigen und lebhaften Freund, welcher meine Neigungen stärker teilte als alle anderen Bekannten, viel mit mir zeichnete und poetisch schwärmte.” Die in einen Briefwechsel verlagerte Freundschaft zerbricht jedoch, als Heinrich entdeckt, dass sich der andere mit fremden Federn geschmückt hat.

Als nach Kellers Tod die im Roman erwähnten “plagiierenden” Briefe auftauchten, war es der Frauenfelder Arzt Elias Haffter (1851–1909), der den Absender Johann Müller identifizierte. Er teilte den Namen Jakob Baechtold (1848–1897) mit, und dieser machte ihn 1894 publik.

Ein Holzweg in Gottfried Kellers Leben?

Voreingenommen von der zwiespältigen Romanfigur, gingen die späteren Keller-Biografen mit dem echten Johann Müller hart ins Gericht. Sie sprachen von “Schwindelbriefen” und “gaunerischer Bosheit”. Die Freundschaft wurde als “einer der vielen Holzwege” in Kellers Jugend bezeichnet, aus Müller sei “nichts Rechtes” geworden. Ein Zürcher Uniprofessor verurteilte ihn noch 1990 als “unsoliden Charakter”.

Skeptisch über diese Urteile, machte ich mich auf die Suche nach Quellen, um Fiktion und Wirklichkeit zu trennen. Als Fundgrube erwiesen sich die 18 erhaltenen Briefe, die Müller zwischen 1837 und 1848 an Keller geschrieben hatte. Archivalien im Bürgerarchiv Frauenfeld und im Staatsarchiv Thurgau erlaubten es, eine Chronologie seines Werdegangs zu rekonstruieren. Schnell weitete sich der Suchraum aus: nach Zürich, Basel, München, Wien, schliesslich – virtuell – nach Nordamerika. Dabei zeigten sich überraschende Parallelen im Leben der gleichaltrigen Freunde.

In manchem Schicksalsgefährten:
der etwa 50-jährige Gottfried Keller
und der 46-jährige Johann Ulrich Müller in einer Fotomontage.

Harziger Einstieg als Baumeister

Johann Ulrich Müller wurde am 31. Oktober 1819 als erster Sohn des Kantonsbaumeisters David Müller (1788–1840) und der Margaretha Ammann (1787–1831) von Matzingen geboren.

Er wuchs mit seinen Schwestern Verena (1814–1877) und Anna Barbara (1821–1898, spätere “Frau Stadtammann Fehr”) sowie drei Halbgeschwistern in Frauenfeld in der Holder-Vorstadt auf. Akten im Staatsarchiv Zürich enthüllten, dass er Gottfried Keller an der Industrieschule kennenlernte – und dass beide aus der Anstalt weggewiesen wurden. Keller beschloss Landschaftsmaler zu werden. Müller begann eine Steinmetzlehre. Skizzen und Schauergeschichten in frühen Notizbüchern belegen ihre Freude am Zeichnen und Dichten, wie sie auch im Grünen Heinrich geschildert wird.

Als Müller 1837 vom erkrankten Vater nach Frauenfeld zurückgerufen wurde, spornten sich die beiden postalisch zu weiteren Phantastereien an. Es stimmt: Müller “stahl” mehrmals aus Werken anderer. Etwa von Goethe und Jean Paul. Wer von plumpem Abschreiben spricht, verkennt jedoch damalige Lernprozesse und die Dynamik ihres Briefwechsels. 

Ab 1838 bildete sich Müller in München an der Baugewerksschule und der Akademie der bildenden Künste weiter. Als sein Vater im Februar 1840 starb, übernahm er “blutjung und halbfertig” das Baugeschäft – während Keller als Kunststudent sein Zimmer in München bezog. Nachweisbar sind unter anderem sein Umbau der evangelischen Kirche von Alterswilen und sein Entwurf des evangelischen Pfarrhauses in Affeltrangen. Er erstellte für den Kanton Pläne, Kalkulationen und Gutachten, wurde aber bei der Vergabe der Bauakkorde meist übergangen.

Enttäuscht versteigerte er 1843 seine ganze Habe und zog nach Basel, wo er die Bauten für das Eidgenössische Schützenfest 1844 leitete (sie bilden auch im Grünen Heinrich eine Kulisse). Danach schlug er sich in Wien als Bauzeichner durch. Im letzten Brief von 1848 bat er Keller, der als Dichter erste Erfolge feierte, um Geld. Doch die beiden hatten sich entfremdet. An diesem Punkt zogen die meisten Keller-Biografen ihre negative Bilanz.

Neuanfang im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Müller ging keineswegs zugrunde. Er wählte 1849 die Auswanderung nach Amerika. Auf der Überfahrt lernte er Adeline Stark (geb. 1830) aus Kublitz kennen. Sie heirateten 1850 in Sandusky City, Ohio. 1851–1854 führte er in Cleveland ein Büro für “Architecture and Drawing”. Noch heute bekannt ist die Lithografie Panorama of Cleveland and Ohio City (1851), die neu ihm zugeschrieben werden kann. Als 1854 Kellers Grüner Heinrich erschien, schlug auch John U. Mueller ein neues Kapitel auf: in Detroit, Michigan. Er trat in den Dienst des Kriegsministeriums und beteiligte sich während 26 Jahren als Ingenieursassistent und Zeichner des US Lake Survey an der Herstellung von Karten der fünf Grossen Seen. Auch als Erfinder und Künstler ist er aktenkundig. Müller starb am 24. Juli 1888 in Washington D. C., ohne Frauenfeld wiedergesehen zu haben. Am 15. Juli 1890 endete Kellers Leben.

Späte Rehabilitierung

Die reich bebilderte Biografie wirft nicht nur ein neues Licht auf die Beziehung von Müller und Keller, sondern auch Streiflichter auf Müllers schillernde Verwandtschaft sowie weitere Thurgauer, Zürcher und amerikanische Zeitgenossen. Seine Entwicklung vom Romantiker zum praktisch schöpferischen Menschen des Gründerzeitalters versetzt in Erstaunen. Die abenteuerliche Lebensgeschichte verdient es, neu erzählt zu werden.

zur Autorin: Die Frauenfelder Kunsthistorikerin und Germanistin Monica Seidler-Hux ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich.

Das Buch zum Thema

Biografie (und Briefedition) von Monica Seidler-Hux

Gottfried Kellers feuriger Freund
Johann Ulrich Müller – Romanfigur, Baumeister und Kartograf der USA

Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2020.

320 S., 130 farbige und s/w-Abb., gebunden.

ISBN 978-3-03919-522-0.

Überall im Buchhandel erhältlich.

Zum Buch: hierundjetzt.ch

Mehr aktuelle Themen rund um den Thurgau, finden Sie hier.