Das Historische Museum Thurgau öffnet im Internationalen Jahr des Glases 2022 seine Fenster zu einem bisher unterbelichteten Hauptmedium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: zur Glasmalerei. Vor allem ist es die freche Hörtour durch Schloss Frauenfeld, die ein erkenntnisreiches Blitzlichtgewitter verspricht.
Normalerweise schweifen wir an ihr vorbei, wenn wir uns in geschichtsträchtigen Gasthäusern, Schlössern oder Ratshäusern bewegen, an der Fensterkunst. Gleichsam für sich alleine funkeln und leuchten sie im Sonnenlicht vor sich hin, die kostbaren Glasmalereien, meistens zusätzlich von Vorhängen überdeckt oder durch Mobiliar verstellt. Der ursprünglich erheblichen Bedeutung, welche das Medium der Glasmalerei vor allem in der Frühen Neuzeit hatte, wird diese Rolle im Schatten des Raumes jedoch nicht gerecht.
Glasmalerei im Thurgau
Das Internationale Jahr des Glases, welches die UNO für 2022 ausgerufen hat, ist auch für den Thurgau Anlass, nun endlich wieder Licht auf die Glaskunst zu richten. Die wissenschaftliche Vorarbeit dazu begann schon vor sechs Jahren. Das Historische Museum Thurgau hat 2016 in Zusammenarbeit mit dem Vitrocentre Romont und der kantonalen Denkmalpflege begonnen, die hochwertigen Glasgemälde des Kantons systematisch zu erschliessen und für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden im Juni 2022 an einer Vernissage präsentiert und sind online bereits über die Website vitrosearch.ch greifbar.
Doch, was macht die Glasmalerei eigentlich zu einem derart bedeutungsvollen Kulturgut? Die Frage lässt sich einfach beantworten: Es geht um die Kulisse von Religion und Politik, denn das Zeitalter der Glasmalerei hat das Verständnis des Repräsentationsraums nachhaltig verändert. Ausserdem haben über die verschiedenen Zeiten hinweg alle wesentlichen Kunstströmungen ihren Niederschlag in der Glaskunst gefunden. Damit bietet die Fensterkunst den Betrachterinnen und Betrachtern heute ein faszinierendes Kaleidoskop der kulturhistorischen Epochen.
Strahlendes Zeitalter
Das neue, strahlende Zeitalter für die Glasmalerei begann in Frankreich mit der Gotik, als es technisch möglich wurde, grosse Glasfenster in die Kirchenarchitektur zu integrieren. Auf magische, ja, für die Zeitgenossen göttliche Art und Weise erstrahlten die ehemals düsteren Kirchenräume plötzlich in funkelnden Lichtsphären. Ein beeindruckendes Beispiel der Fensterkunst des Mittelalters findet sich in der St.-Laurentius-Kirche von Frauenfeld-Oberkrich. Es lässt sich heute nur erahnen, welch tiefgreifenden Eindruck die dortigen Chorfenster mit ihren anmutigen Heiligenfiguren bei den Gläubigen im 14. Jahrhundert hinterlassen haben mussten.
Um Eindruck und Wirkung, die von der Glasmalerei bis heute ausgeht, aber vor allem auch um die damit verknüpfte Darstellung gesellschaftlicher Rollen geht es im Projekt «Glas & Gloria. Fensterkunst im Thurgau» des kantonalen Geschichtsmuseums auf Schloss Frauenfeld. In der imposanten Schlossanlage des ehemaligen Herrschaftszentrums der eidgenössischen Gemeinen Herrschaft wird sinnbildlich der Rote Teppich ausgerollt. Darauf stolzieren nun die mächtigen Frauen und Männer des 16. und 17. Jahrhunderts und zeigen sich mit üppigem Federschmuck, mit dekorativen Schamkapseln oder vor prunkvollem Damasthintergrund.
Audiovisuelles Vergnügen
Liebesgeschichten, Heldendramen und aus heutiger Sicht ziemlich skurrile Motive zieren die prachtvollen Scheiben, die in die Fenster des Schlosses eingebracht sind. Um dem Publikum den unermesslichen Reichtum an Geschichten und Perspektiven vor Augen zu führen, welche die historische Glasmalerei bietet, hat das Historische Museum Thurgau drei Fans auf Expedition geschickt. Sascha de Facto, Tanja Gräuel und Fabian Liebeskind schwärmen auf ihrer audiovisuellen Hörtour von den Scheiben im Schloss, wie Gourmets von der Sterneküche oder Filmfans von Alfred Hitchcock.
Es gibt auf dieser Hörtour Atemberaubendes zu entdecken. Etwa, wie eine junge Frau im 16. Jahrhundert ihre ganze adlige Verwandtschaft austrickst. Notabende, alles gestandene Männer der hochadligen Kyburger, der Begründerdynastie von Schloss und Stadt Frauenfeld, die nicht mit der Klugheit des Burgfräuleins gerechnet hatten. Auf einem anderen Gemälde stösst ein eifersüchtiger Toggenburger seine Gattin von den Zinnen des Burgfrieds in die Tiefe. Was für Dramen! Auf der frischen, frechen, aber auch lehrreichen Hörtour werden solch dramatische Szenen natürlich vom Gräuel-Fan Tanja besonders ausgeschlachtet.
Bühne der Macht
Viele dieser Dramen stammen aus den Gründungslegenden von Städten und Klöstern oder aus dem Alten Testament. In der jüdischen Bibel finden sich auch die Vornamen der Thurgauer Landschreiber, Klostervögte und Gerichtsherren und deren Gattinnen. Um dem eigenen Geschlecht und Namen so viel Strahlkraft und Pathos wie möglich zu verleihen, wurden die Glasmalerei-Werkstätten damit beauftragt – die meisten davon befanden sich damals in Konstanz und Zürich –, den Namen ihrer Auftraggeber künstlerisch geschickt mit den gravitätischsten und bekanntesten Mythen und Legenden zu verknüpfen. So lässt beispielsweise der Berwanger Bürger Tobias Mötteli seinen Vornamen mithilfe der Reise des alttestamentarischen Tobit aufwerten. Tobit zog gemäss der jüdischen Bibel aus, um ein Heilmittel für seinen erblindeten Vater zu finden, die Reise symbolisiert aber letztlich nichts weniger als die erste Durchsetzung des Monotheismus gegenüber dem Polytheismus im Altertum. Solche Unbescheidenheit ist denn auch ganz typisch für die Thurgauer Herrschaften der Frühen Neuzeit.
Der Flickenteppich der Macht in der Gemeinen Herrschaft Thurgau zog wie andernorts das Phänomen nach sich, dass sich Verwalter, Vögte und Bürger mit dem entsprechenden Kapital möglichst im besten Licht zeigen wollten, um vor dem Volk und vor allem in ihrem Netzwerk als Einflussnehmende wahrgenommen zu werden. Deshalb wurden die Glasgemälde als Eindruck schindende Fensterkunst jeweils gestiftet und geschenkt, um sie für alle sichtbar in die Fenster von Rats-, Gerichts- oder Gasstuben eingelassen zu wissen. Zu Tisch tafelnd, richtend, debattierend oder in Klöstern beichtend oder betend blitzten so die Namen, Wappen und Geschichten der Scheibenstifter zusammen mit den Sonnenstrahlen in die Repräsentationsräume der Macht.
Bezug zur Moderne
Glas und Gloria hatte also, wer es sich leisten konnte. Dies gilt letztlich bis heute, sichtbar etwa in der Architektur. Die blitzenden und glänzenden Firmensitze mit ihren Glasfassaden, die kostspieligen Eigentums-Attikawohnungen mit den durchgängigen Glasfronten, widerspiegeln heutzutage ebenso Prestige, Kapital, aber auch Stil. Gleichzeitig veranschaulichen die Glaspaläste das heutige Verständnis von Raum – die Grenze, die zwischen privat und öffentlich gezogen wird. Ähnlich transparent und gläsern, wie die Luxuswohnungen am See sind wir heute als Bürgerinnen und Bürger geworden, indem wir unsere privatesten Bilder zusammen den Kerndaten vom Zivilstand bis zur Kreditkarte mit Grosskonzernen aus dem Silicon Valley teilen. Auch Instagram und Facebook sind Rote Teppiche, wo wir uns im besten Licht und mit viel Glanz zeigen wollen – ähnlich wie damals die Schönen und Reichen auf den Glasmalereien.
Das Historische Museum Thurgau bietet seinem Publikum also mehr als nur einen Einblick in diese äusserst bedeutungsvolle Kultur des Glases. Von der archäologischen Perle über das Glasrecycling im Mittelalter zur Pracht der Scheibenkunst bis hin zu Fragen rund um moderne Architektur und postmodernen Datenschutz wird das Publikum auf eine Entdeckungsreise begleitet, die wahrhaftig unerwartete Durchblicke ermöglicht.
zum Autor: Dr. Dominik Streiff ist Stellvertretender Direktor und Kurator Ausstellungen des Historischen Museums Thurgau.
Glas & Gloria. Fensterkunst im Thurgau
Ein audiovisuelles Vergnügen im Schloss Dienstag bis Sonntag, 13 bis 17 Uhr, Eintritt frei Weitere Informationen sowie Details zum vielfältigen Begleitprogramm auf historisches-museum.tg.ch
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